Kitesurf-Schulung für Rollstuhlfahrer: Die perfekte Schule am perfekten Spot.

English: Kiteboarding lessons for wheelchair users: The perfect school at the perfect spot.

Wie sieht der perfekte Spot und das perfekte Kite-Center für Sitkite-Schulung aus? Dieser Artikel soll eine Antwort geben.

In diesem Artikel möchte ich die idealen Rahmenbedingungen für Sitkite-Schulung nach skizzieren. Hauptfokus liegt auf den Gegebenheiten am Spot und der Infrastruktur des Kite Centers. Es handelt sich hier um die Idealvorstellung eines Spots, gewissermaßen den feuchten Traum aller sitzenden Kiterinnen und Kiter. Selbstverständlich kann und muss dieser Höhepunkt nicht überall erreicht werden. Trotzdem: Nicht jede Schule oder jeder Spot ist geeignet, um Rollstuhlfahrern das Kitesurfen zu lehren.

Der Spot

The steppe of Keros with some olive trees. In the background the turquoise bay with two kites.
Auf der Griechischen Insel Limnos befindet sich ein potenzieller Traumspot. Foto by Surf Club Keros

Der perfekte Spot für Sitkite-Unterricht unterscheidet sich nicht allzu sehr vom idealen Schulungsspot generell – konstanter Wind, Flachwasser, viel Platz und angenehme Temperaturen. Mag das für manche fast langweilig klingen, bringen diese Stichworte bei anderen wohl gerade den Speichelfluss in Gang.

Zur leichteren Vorstellung geben wir unserem Traumspot ein karibisches Flair. Man stelle sich Sonnenschein, einen mit Palmen gesäumten Strand und kristallklares, türkises Wasser vor. Das Ganze noch mit Socken-in-Sandalen-Touristen und im Wasser schwimmendem Plastikmüll abschmecken und schon haben wir ein mit Realismus gespicktes Traum-Ambiente. Auch ein idyllischer Bergsee wäre vorstellbar. Für angenehme Wassertemperaturen bedarf es da allerdings einer herausragenden Vorstellungskraft. Doch kommen wir zum Punkt …

Wind
Konstanter Wind im Bereich von 15 – 20 Knoten sind ideale Bedingungen. Abgesehen von der einen oder anderen Schaumkrone wirkt der bzw. die See noch nicht zu bedrohlich und ist für Kitesurf-Schüler in der Regel nicht einschüchternd. Angst lähmt oder besser, hemmt. Je weniger Angst, desto einfacher das Lernen.
Auch werden bei diesen mittleren Windgeschwindigkeiten meist etwas größere Kites zwischen 12m² und 14m² geflogen. Diese Kitegrößen sind aufgrund ihrer geringeren Agilität wesentlich verzeihlicher als deren kleine Geschwister. Flugfehler werden nicht sofort bestraft und können im besten Fall noch korrigiert werden.

The silhouette of some wind wheels at sunset.
Foto by Rafasoulart

Vorausgesetzt der Wind ist konstant, spielt dessen Richtung tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle. Diese Behauptung wage ich nur vor dem Hintergrund aufzustellen, dass bei gehbehinderten Kitesurfschülern immer ein Begleitboot anwesend ist oder zumindest sein sollte. Egal ob sideshore, ablandig oder auflandig, solang genügend Abstand zu diversen Gefahrenquellen hergestellt werden kann, lässt es sich gut unterrichten.

Welle
Je weniger Welle am Schulungsrevier, desto besser können sich die Schüler auf den Kite und das Board konzentrieren. Daraus resultieren schnellere Erfolgserlebnisse und  in Konsequenz höhere Motivation. Spiegelglattes Wasser ist der Traum schlechthin. Ein wenig Kabbelwelle ist auch noch sehr gut. Brechende Wellen und Shorebreak sind allerdings ein No-Go. Ein Sitkite-Schüler, der in der ersten Wasser-Stunde gleich gewaschen wird und die süße Panik des vermeintlichen Ertrinkens erleben darf, wird so schnell keinen Kite mehr angreifen.

Wassertiefe
Brauchen sitzende Kitesurfer stehtiefes Wasser? Sitzend in Stehtiefe … … …
Hier haben eine markante Abweichung zwischen sitzenden und gehenden Kitesurf Schülern. Für Sitkiter macht es keinen großen Unterschied, ob das Wasser einen oder hundert Meter tief ist. In keinem der beiden Fälle können sie den Untergrund für sich nutzen. Tiefes Wasser ist gegenüber seichtem tendenziell sogar zu bevorzugen. Begründung: Ab einer bestimmten Wassertiefe fällt der Untergrund als potenzielle Gefahrenquelle weg. Vergessen wir nicht, dass bei einer Gehbehinderung die Beine auch als natürliche Stoßdämpfer wegfallen. Einziger Nachteil: Bei tiefem Wasser ist es tendenziell ein wenig welliger.

A single yellow kite within a big bay. A small mountain in the background.
Platz noch und nöcher. Foto by Rafasoulart

Platz am Wasser
Je weniger bevölkert ein Spot ist, desto besser. Das Risiko, in Unfälle mit anderen Kitern verwickelt zu werden, ist minimiert. Dies erlaubt den Schülern, sicherer und motivierter zu trainieren. Der erhöhte Bewegungsspielraum am Wasser mündet schließlich in schnellere Erfolge, da die Zeit effizienter genutzt werden kann – man kann sich voll und ganz auf sich konzentrieren, muss nicht stetig auf das Umfeld achten.

Warme Temperaturen
Dieser Punkt wird gerne unterschätzt. Doch warme Wasser- und Lufttemperaturen machen beim Sitkite-Unterricht einen riesen Unterschied. Aufgrund mangelnder Durchblutung und Bewegung der unteren Extremitäten, neigen besonders querschnittsgelähmte Sportlerinnen und Sportler dazu, schnell auszukühlen. Insofern bedeuten angenehme Temperaturen mehr Wasserzeit und somit einen schnelleren Lernerfolg. Abgesehen davon ist Kitesurfen wesentlich reizvoller, wenn einem die Sonne ins Gesicht scheint statt sich hinter dichten Wolken zu verstecken. Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass Sitkite-Schüler auch bei wärmsten Temperaturen immer einen Neoprenanzug tragen sollten, da dieser auch vor Verletzungen schützt und zusätzlichen Auftrieb gibt.

Strand

2 wheelchair-users on a ramp on the beach.
Holzrampen am Nieblumer Strand

Nicht zwingend notwendig aber ein dicker Bonus ist harter Untergrund an Land. In tiefem, weichem Sand kommt man im Rollstuhl selbstständig kaum vom Fleck und ist für jeden zurückzulegenden Meter auf Hilfe angewiesen. Fester Sand, Liegewiesen oder gar befestigte Wege sind für rollendes Volk Gold wert – auch wenn sich wohl niemand durch einen Sandstrand vom Kitesurfen abhalten lassen wird. Dieser Punkt fällt unter die Kategorie Luxus.

Die Kite-Schule

Da ein perfekter Spot ohne Kiteschule nicht allzu viel nützt, wollen wir uns an dieser Stelle das optimale Center vorstellen – Barrierefreiheit, Motorboot und selbstverständlich Sitkite-Board sind dabei die wichtigsten Schlagworte.

Barrierefreiheit
Das Thema Barrierefreiheit kann nicht genug betont werden. Erst wenn alle Kunden jeden öffentlichen Bereich der Schule bzw. des Centers erreichen können, haben wir den Idealzustand erreicht. Können behinderte Kitesurf-Fans unkompliziert Rezeption, Shop oder auch Bar erreichen, sind alle Voraussetzungen gegeben, um sich dazugehörig und nicht außen vor zu fühlen. Realistisch gesehen ist das leider nicht überall möglich – Kiteschulen älteren Baujahres müssen mit den vorherrschenden baulichen Gegebenheiten arbeiten und können nicht immer absolute Barrierefreiheit herstellen. Solange die Würde der Sportlerinnen & Sportler mit Behinderungen nicht angekratzt und so weit es geht Teilhabe ermöglicht wird, muss nicht alles perfekt sein. Man darf sich als Schule aber schon ein wenig anstrengen.

Quizfrage:
Wenn ein Rollstuhlfahrer in aller Öffentlichkeit am Parkplatz in eine Flasche pinkelt, weil es kein zugängliches WC im näheren Umkreis gibt, ist das …
————
a) … perfekt, weil der Betroffene damit auch gleich den eigenen Flüssigkeitsbedarf deckt.
b) … nicht ideal, weil es sich bei Wind nicht gut zielen lässt.
c) … nicht zutreffend, weil es sich um eine Rollstuhlfahrerin handelt.
d) … %§ß&#!, weil %§ß&#!

WC & Dusche

Open door to an accessible toilett
Ein barrierefreies WC ist Pflicht.

Auch wer hier mit a) antwortet (Zum Wohle), sollte erahnen können, dass barrierefreie Sanitärräume Grundvoraussetzung für eine adaptive Kiteboarding Schule sind. Ein zugängliches WC ist Pflicht. Aber auch eine barrierefreie Dusche und Umkleide sollten ganz weit vorne auf der Prioritätenliste stehen. Sich in bzw. aus einem Neoprenanzug zu kämpfen ohne die Beine nutzen zu können, ist eine mühsame Angelegenheit – etwas Privatsphäre und ausreichend Platz nehmen dieser Selbstkasteiung dann doch ein wenig den Schrecken. Wenn nach der Session noch eine warme Dusche auf einen wartet, ist man im Himmel auf Erden und kommt gerne wieder.

Motorboot
Für den Kiteunterricht selbst sehe ich ein ausreichend motorisiertes Boot als unumgänglich. Ohne Boot oder zumindest einem Jetski würde ich als Kite-Schule die Finger von adaptive Kiteboarding lassen. Erst ein motorisierter Untersatz ermöglicht es, im Ernstfall in kürzester Zeit beim Schüler zu sein, um helfend eingreifen zu können.
Abgesehen davon bringt ein Boot mehr Effizienz. Die Zeit am Wasser kann so wesentlich besser genutzt werden, da die Schüler nach Herzenslust experimentieren können ohne auf Höhe achten zu müssen. Nach der Unterrichtseinheit kehrt man einfach im Boot an den Startpunkt zurück.

Das Platform Boot des Vereins auf dem See. Die Sonne scheint und im Hintergrund sieht man 2 Kites.
Schulung mit Boot am Gardasee

Doch nicht nur in Sachen Effizienz vermag ein Boot den Lernerfolg zu verbessern. Besonders wenn schon die ersten Strecken auf dem Board zurückgelegt werden, wirkt Schulung aus dem Boot wahre Wunder. Zum Einen können die Lehrer so nah an ihren Schützlingen bleiben, mögliche Fehler schnell erkennen und direkte Anweisungen geben. Zum Anderen weckt „[…] das Wissen, immer jemanden an seiner Seite zu haben, […]“¹ ein Gefühl von Sicherheit und damit ein Plus an Motivation bei den Schülern.
Zu guter letzt ermöglicht ein Boot auch bei Flaute den Unterricht durchzuziehen. Statt dem Kite lässt man sich bei einer Wakeboard Session einfach vom Boot übers Wasser ziehen und lernt so, das Board zu kontrollieren.

Sitkiteboard
Dass ein funktionsfähiges Sitkiteboard Pflicht ist, dürfte nicht angezweifelt werden. Ohne Board und Sitz, kein Kiten. Ob es sich bei dem Board um eine funktionale und sichere Eigenkonstruktion oder ein Top-Sitkiteboard handelt, spielt dabei keine große Rolle.
Ziel der Schulung ist, die Schüler möglichst sicher so weit an den Sport heranzuführen, bis diese die ersten Fahrerfahrungen gesammelt haben und sicher mit Kite und Board umgehen können. Wer den Sport im Anschluss weiter ausüben möchte, kommt um ein gut angepasstes Sitkiteboard nicht herum, erst dann muss alles perfekt sitzen.

2 different sitkite boards on a boat in a lake.
Sitkite-Boards müssen nicht alle gleich sein. Hauptsache sie sind sicher und funktionieren. Foto by Altogarda – Kite ASD

In der Schulung selbst hat der Sicherheitsaspekt oberste Priorität. Der Sitz sollte so konstruiert sein, dass man die handelsüblichen Safety-Systeme der Kites in jeder Situation gut erreichen und auslösen kann. Die Schüler müssen immer dazu in der Lage sein, sich schnell vom Kite trennen zu können. Konstruktionen, an denen sich die Leinen des Kites verheddern können, sind gefährlich und deshalb zu meiden.
Beim Board selbst gibt es nur eine goldene Regel: KEIN VOLUMEN.
Beim Sitkiteboarding ist ein voluminöses Board mit einem kentersicheren Kielboot vergleichbar. Der Haken ist, dass auf einem solchen Board der Kitesurfer tendenziell die Rolle des Kiels übernimmt, also des Gegengewichts Unterwasser. Suboptimal für ein Säugetier, das auf Luft zum Atmen angewiesen ist.

Hoffentlich etwas verständlicher:
Wenn man nicht gerade fährt, sollte das Board möglichst wenig Auftrieb haben. So sinkt man ungefähr bis zum Bauchnabel ab und kann die Körperposition gut mit den Armen im Wasser austarieren. Auch ein Umkippen birgt so kaum Gefahren, da man das Brett ohne Schwierigkeit wieder unter sich bekommen kann. Dies ohne Kite zu trainieren, lohnt sich.
Hat das Board zu viel Volumen und damit zu viel Auftrieb, sinkt das Brett nicht ab. Man kippt um und wird zum eben beschriebenen menschlichen Kiel: Während das Volumen dafür sorgt, dass das Brett an der Wasseroberfläche bleibt, zieht das Körpergewicht der am Board festgeschnallten Person nach unten. Auch mit Schwimmweste ist es kaum möglich zum Atmen an die Oberfläche zu kommen. Man bleibt kopfüber Unterwasser. Ist dann nicht gleich jemand zu Stelle, um zu helfen, läuft die betroffene Person Gefahr zu ertrinken.

Luxus – Lehr Gadgets
Es gibt einige Möglichkeiten, die Kitesurfschulung für Rollstuhlnutzer zu optimieren oder schlicht unterhaltsamer zu gestalten. Immerhin, so habe ich mal gehört, soll Sport ja auch Spaß machen. In der näheren Vergangenheit haben sich dabei 3 Lehrmittel besonders hervorgetan:

A hobie cat with a kite instead of a sail. 4 people sitting on top. White spray from the speed.
Ein Catakite im Einsatz auf Limnos

Catakite – Ein Hobie Cat ohne Mast mit Kite statt Segel. Damit können Schüler und Lehrer gemeinsam auf dem Wasser die Kitesteuerung in Fahrt trainieren. Eine Catakite-Session ist nicht nur lehrreich sondern gibt auch einen kleinen Vorgeschmack auf das autonome Kitesurfen.

 

A person with red helmet sits in an adapted kitebuggy. Behind him on the axle of the buggy stands a man to help with the steering.
Die weiten Strände auf Föhr sind wie gemacht für Kitebuggies.

Kitebuggy – Vorausgesetzt, sie sind mit einer Handsteuerung adaptiert, haben sich Kitebuggies an Spots mit viel Platz am Strand als nützliche und unterhaltsame Trockentrainings-Option erwiesen. Auch lassen sich Buggies gut als Transportmittel am Strand nutzen. Man schlägt so also gleich 2 Fliegen mit einer Klappe.

 

In front a red and yellow kite. In the background there is an inflateable couch in the sea - 3 people sitting on top. A 4th person stands next to them in the shallow water.
Sofa-Surfer auf Limnos

Kitesofa – Diese aufblasbaren Sofas sind eine unterhaltsame und sichere Option, um die Kitesteuerung zu lehren. Kiteschüler und Lehrer sitzen nebeneinander und trainieren entspannt diverse Flugmuster. Damit es nicht gleich nach Lee geht, werden die Sofas meist verankert.


Luxus – Strandrollstuhl
Ähnlich, wie fester Untergrund am Spot, ist auch ein Strandrolli an der Schule kein Muss aber wohltuender Luxus. Auch wenn sich immer Möglichkeiten finden, um Schüler ins Wasser zu befördern, sind Strandrollstuhl, Kite-Trailer oder eben ein Kitebuggy die wohl elegantesten Wegbereiter an einem Sandstrand. Die dicken Ballonreifen erleichtern den Weg über den tiefen Sand und schonen Rücken und Kräfte des Schulpersonals. Die Kitesurfschüler können sich in einem solchen Gefährt auch bis ins seichte Wasser transportieren lassen – der eigene Rolli bleibt dabei trocken und rostfrei.

Dies wären aus meiner Sicht die wichtigsten Stichpunkte für den adaptive Kiteboarding Spot der Träume. Für diejenigen, sich gerade etwas wundern: Neoprenanzüge, Helme, Auftriebswesten, etc. habe ich deshalb nicht explizit erwähnt, da diese sowieso zur Grundausstattung einer seriösen Kiteschule gehören. Ob mit und ohne Behinderung: Stellt ein Center diese Ausrüstung nicht zu Verfügung, ist es am besten, sich gleich zu verabschieden und eine andere Schule aufzusuchen.

Da mein Gottkomplex noch nicht derart ausgereift ist, dass ich mich als unfehlbar sehe, würde ich mich sehr über Feedback freuen. Habe ich etwas vergessen? Oder stimmt Ihr mit einer Aussage nicht überein? Lasst es mich wissen.

Verweise:
¹Kitesurfen im Rollstuhl – der Durchbruch naht

4 Antworten auf „Kitesurf-Schulung für Rollstuhlfahrer: Die perfekte Schule am perfekten Spot.

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    1. Hallo Martina,
      ich persönlich würde schon denken, dass Kitesurfen auch für dich möglich sein sollte. Natürlich kann ich mich nicht zu 100% in deine Situation hineinversetzen (bin komplett Th11 ohne Rumpf), glaube aber, dass es mit dem richtigen Material (ein Sitz, der z.B. die fehlenden Bauchmuskeln kompensieren kann) klappen müsste. Es gibt schon sitzende Kiter mit höheren Lähmungen, es spircht also nichts dagegen.

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