COVID-19: Freiheitsentzug für Anfänger

English: COVID-19: Imprisonment for beginners

Das Coronavirus ist unbestritten die größte globale Krise seit dem 2. Weltkrieg. Menschen sterben. Menschen leiden. Existenzen gehen zugrunde. Die Krise vermag vielleicht aber auch Augen zu öffnen. Eine Simulation des ‚Lifestyle‘ Behinderung?

So sitze ich hier in meiner Wohnung und recke meinen Kopf jeden Tag zur gleichen Zeit aus dem Fenster, um die morgendlichen Sonnenstrahlen so gut wie möglich auszukosten. Von ca. 09.30 Uhr bis kurz vor 10 ist der beste Einfallswinkel für nahtlose Bräune auf dem Skalp. Mein Mitbewohner Ivan, der arbeitsbedingt erst seit knapp 2 Wochen in den vollen Genuss der Quarantäne kommt, zeigt schon erste Anzeichen eines beginnenden Lagerkollers – nur mehr 3 Wochen ausharren. Genug Zeit, um endgültig durchzudrehen.

Entspannter Freiheitsentzug

Es wundert mich, dass ich selbst ziemlich entspannt mit dieser Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit umgehe. Das obwohl ich eine Woche mehr auf dem Buckel habe als Ivan. Fast bin ich ein bisschen stolz auf diese unglaubliche Ausgeglichenheit. Der eine oder andere Wutausbruch lässt sich ja vernachlässigen. Andererseits frage ich mich, warum mir diese Ausgangssperre nicht so zusetzt.
Meine Erklärung: Ich bin trainiert. Auch wenn meine physischen Möglichkeiten wegen meiner tiefliegenden Querschnittslähmung vergleichsweise groß sind, habe ich in den letzten rund 18 Jahren regelmäßig die Erfahrung gemacht, mich nicht so frei bewegen zu können, wie ich gerne würde. Ich habe mich daran gewöhnt.

Alles behindert

Es steckt schon im Wort: Behinderung. Daran gehindert sein, teilzuhaben. Behinderung – nicht teilhaben. Gerade jetzt ist das Gros der menschlichen Bevölkerung behindert, zumindest temporär. Willkommen im Club.

Für diejenigen, die schon vor der Pandemie diesem illustren Kreis angehörten, sind die Ursachen der alltäglichen Ausgangsbeschränkungen vielfältig und zumindest teilweise auf eine Gesellschaft zurückzuführen, die nicht wirklich auf Menschen mit Behinderungen vorbereitet ist. Neben mangelnder baulicher Barrierefreiheit und den Barrieren in den Köpfen der Gesellschaft, bringen auch die eigenen Einschränkungen einen mehr oder weniger erhöhten Aufwand in der Alltagsbewältigung mit sich. Anziehen, Duschen und andere Tätigkeiten des täglichen Lebens nehmen je nach Behinderung einen größeren Zeitaufwand in Anspruch und sind in vielen Fällen nicht ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Ergänzen wir dieses Wissen um eine durchschnittlich höhere Bettlägerigkeit, niedrigere Erwerbstätigkeit und generell geringere Möglichkeiten für Freizeitbeschäftigung außer Haus, sollte folgendes klar werden: Viel Zeit in den eigenen 4 Wänden zu verbringen ist für behinderte Menschen nichts Neues.

Indoor Profis

An all jene, die ihr schon jetzt an den Wänden kratzt und nicht wisst, was mit Euch anfangen: Was seid ihr doch für Amateure. Der Wunsch nach einer dauerhaften Behinderung ist im Augenblick nur zu leicht nachzuempfinden. Immerhin sind wir die Ronaldos, Williams und Hirschers* des Zuhause-Bleibens. Lassen wir aber Euren durchaus verständlichen Neid beiseite und konzentrieren wir uns auf einen anderen Aspekt.

Luxus aus vergangenen Tagen

Jetzt, wo ihr voller Sehnsucht nach draußen schaut; wo ihr Euch wünscht, endlich wieder zu sporteln; ohne besondere Vorkehrungen Einkaufen zu gehen oder spontan mit Freunden den Park oder ein Café zu besuchen.
Wie fühlt es sich an, all das nicht zu können? Besch-eid-en, nehme ich an.

All das, was für Euch bis vor Kurzem so selbstverständlich war und was ihr gerade jetzt so sehr vermisst, war und ist für viele Menschen mit Behinderung seit jeher ein schwer erreichbarer Luxus.
Ein wichtiges Schlagwort für ein Leben mit Behinderung ist Akzeptanz. Kein Mensch kann immer und überall mit dabei sein. That’s life. Für Menschen mit Behinderungen geht dies einen Schritt weiter oder ist zumindest offensichtlicher. Eine Klettertour mit Freunden ist für die meisten Rollstuhlfahrer*innen einfach nicht drin. So hart es klingen mag: Man muss lernen damit umzugehen und die Freunde auch mal ziehen lassen.
Sch**** auf „Der Wille versetzt Berge.“

Auskotzen

Etwas anders verhält es sich im Park oder Café. Auch für behinderte Menschen sollte dies Selbstverständlichkeit sein. Ist es aber nicht. Wenn man mit Freunden durch die Stadt spaziert und spontan beschließt ein Käffchen trinken zu gehen, kommt es noch wesentlich zu oft dazu, dass Barrieren dieser Spontanität einen Riegel vorschieben. Hat man es endlich in ein Lokal geschafft, ist dies aber noch kein Grund zur Entspannung. Oft reicht schon ein kleines Schild als Spaßbremse. Ein Stufen-Piktogramm mit Pfeil weist darauf hin, dass sich die Donnerbalken im Untergeschoss befinden. Kacke. Wenn das Damokles-Schwert der nächsten Pinkelpause drohend über einem hängt, überlegt man sich den nächsten Kaffee gleich zweimal. Statt dessen auf Shots umzusteigen, mag eine verlockende Lösung sein. Trotz geänderter Exit-Strategie steht man letztlich aber wieder vor dem gleichen Problem in grün … oft fein durchsetzt mit Resten der letzten Mahlzeit. Kurz um: Kann man nicht pinkeln, will man nicht trinken. Der Ausflug findet ein jähes Ende. Keine Ausnahmesituation. Spätestens hier ist Schluss mit Akzeptanz.
Es darf nicht sein, dass gesellschaftlich konstruierte Barrieren jemanden daran hindern, ein würdiges Sozial-Leben zu führen. Ein Sozial-Leben, das genau jene Aktivitäten mit einschließt, die Ihr bis vor kurzem noch als Banalitäten angesehen habt. Ausgehen. Rausgehen. Einkaufen. Oder einfach Familie und Freunde besuchen.
Denkt bitte daran, wenn Ihr nach der Krise endlich wieder bei Eurer Tante im 3. Stock ohne Lift auf einen Kaffee vorbeischaut und ihren steinharten Gugelhupf mit einem Lächeln runterwürgt.

Untouchables

Die derzeitigen Ausgangssperren aufgrund der Corona-Pandemie machen Behinderung zum Massenphänomen:

Mehr Zeit zuhause, als einem lieb ist.
Minutiöse Planung des Alltags.
Vergiss den Arbeitsmarkt.
Wandern – nope.
Ausgehen – no way Jose.
Chronisches Abstand halten.
Man hat „hoch ansteckend“ förmlich auf die Stirn geschrieben
und ist Untouchable – unberührbar.

Noch nie waren so viele Menschen dem Lebensgefühl Behinderung so nah wie heute.

Auch wenn Eure Behinderung ein Ablaufdatum hat: Merkt Euch dieses Gefühl. Denn die neu gewonnene Empathie muss kein Ablaufdatum haben. Ähnlich wie bei Klimawandel, ist die Krise auch bei Inklusion entweder Segen oder Fluch. Es liegt auch an Euch, wie das Pendel nach der Bewältigung ausschlägt.

 

Verweise:

* Marcel Hirscher ist eine Berühmtheit des Österreichischen Nationalsports Skifahren. Dabei fährt man auf 2 an die Füße geschnallte Latten so schnell wie möglich einen schneebedeckten Hang hinunter.

 

Ein Kommentar zu „COVID-19: Freiheitsentzug für Anfänger

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